Prof. Ulrich Eller
zur Eröffnung von klangstaetten | stadtklaenge 2017 am 8. September 2017
klangstaetten | stadtklaenge 2017 ist ein Außenraumprojekt des Allgemeinen
Konsumvereins mit dem besonderen Anliegen einer neuen Hörerfahrung in den Geräuschen
der Urbanität.
Diesem Anspruch stellen sich die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler. Ihre, für
die Orte des Projekts entwickelten Klangarbeiten sind besondere Dramaturgien des
Augenblicks. Es sind Hörmomente, die neue Qualitäten und eine veränderte
Aufmerksamkeit für das Geschehen freisetzen.
Alle KünstlerInnen verfolgen dieses Anliegen mit großer Leidenschaft, wobei sich die
besonderen Dispositionen unterschiedlich darstellen. katrinem, Åsa Stjerna, Natalie
Bewernitz / Marek Goldowski, Ulla Rauter, Stefan Roigk, Kristof Georgen und Roswitha
von den Driesch / Jens-Uwe Dyffort sind die beteiligten KünstlerInnen, alle
ausgewiesen für die besondere Bezugnahme zum Außenraum, dem städtischen Umfeld und
einem veränderbaren Hörprozess.
Zwischen den Orten der Klangstaetten, im Bereich der Wege, werden die Ergebnisse
eines kleinen Wettbewerbs der Klangkunstklasse der HBK verortet: Gang Chen, Jakob
Gardemann, Emilie Schmidt, Aaron Schmitt und Ingo Schulz zeigen speziell für diese
Orte entwickelte Projekte.
Jeder historische Friedhof / Park / Grünraum ist ein anderer Klangraum und hat andere
historische und urbane Bezüge, die durch die künstlerischen Setzungen interpretiert
werden, um deren Atmosphären auszudeuten und neu zu bestimmen.
Klangarbeiten im öffentlichen Raum sind eine besondere Herausforderung, da sie immer
auf die situativen Bedingungen reflektieren. Diese Vorgehensweise sieht sowohl den
Ort der künstlerischen Intervention, in den Bestandteilen seiner Gestimmtheit,
seiner dramaturgischen Wirkungen, seiner inhaltlichen Ausdeutbarkeit und letztlich
seiner Alltagswirkung für die Menschen, die hier leben.
Daher geht es nicht um ein Nochmehr bei einem in der Regel schon existierenden
Zuviel in der urbanen Geräuschwelt der Stadt, sondern um eine neue, unerwartete,
anders erfahrbare Beobachtung des Hörens und Sehens, aber genau in dieser
Reihenfolge, jedenfalls meistens.
Hier in den installativen Arbeiten des Parcours tritt besonders der Ort ihrer Präsenz hervor und macht diesen zu wichtigsten Teil des Geschehens. Der Raum, der optische und akustische Raum der historischen Friedhöfe ist dabei Mitspieler. Klang und Raum werden als permanente Einheit wahrgenommen, wobei die reizvolle Gegensätzlichkeit der Grundkonstanten des „Fließens“ der Zeit und der „Beharrlichkeit“ des Raums dieser Empfindung entgegensteht. Der Hörprozess bzw. das Zeit-Verbringen an solchen Orten ist ein Angebot der Kunst die Bewegungen der Geräusche und Klänge zu vollziehen und diesen sich permanent verändernden Zusammenhang (aus der Mitte heraus – wir stehen im Zentrum) zu verfolgen. Die Exklusivität der Ortsbezogenheit, die Einmaligkeit ihres Erlebens im Hier und Jetzt ist eine Besonderheit und so ganz anders als der sonst übliche Umgang mit Hörprozessen, besonders im Hinblick auf die Tonkunst. Die Anforderung ist, auftretende Geräuschzusammenhänge zu musikalisieren, also genau die Konzentration aufzubringen, die sonst nur im Konzertsaal als kulturelle Praxis eingefordert wird und die wir in unserem Alltag nur selten erlangen.
Die künstlerischen Beiträge wirken daher als entgrenzende künstlerische Aktivitäten und reflektieren den zeitgenössischen Horizont der Möglichkeiten auf der Suche nach einem anderen Fokus, neuen Ausdrucksformen und unbekannten Lösungen.
Mein kuratorisches Interesse ist es gegen die Ökonomie der Aufmerksamkeit ein
unmittelbares Erleben eines inspirierenden Moments zu setzen.
Es geht mir dabei weniger um die Einflussnahme und Gestaltbarkeit von akustischen
Landschaften, sondern vielmehr um das speziell Audiovisuelle. Das viel zitierte
Hören und Sehen ist eher ein Sehen und Hören und dies in der gesteigerten Praxis von
Stadtmenschen gezwungenermaßen ein Sehen und Weghören. Lasse ich mich allerdings
ernsthaft auf unsere hörbare Welt ein - und eben auch auf die Geräusche der Stadt,
so werde ich Teil eines aktiven Prozesses, eines Stroms von vielen gleichzeitigen
Ereignissen, unübersehbar vielfältig und wandelbar und fast in jedem Augenblick
anders.
Kunst ist heute überall und vor allem dort, wo sie noch unerwartet zu sein scheint und das als Teil einer/ihrer Strategie. Ihr unbescheidenes Ziel ist es, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und dabei kann die Unvorhersehbarkeit, die mit einem erwartungsfreien Ort einhergeht, durchaus zu einer überraschend anderen Wahrnehmung führen. Dies entwickelt sich oft in einer engen inhaltlichen Verzahnung mit den Eigenschaften, Historien und Erfahrungen, die einige solcher Orte bieten.
Die meisten Arbeiten von klangstaetten | stadtklaenge 2017 sind tatsächlich
audiovisuell, d.h. ihre akustische Wahrnehmbarkeit ist gekoppelt an ein visuelles
Angebot, einer Sichtbarkeit von der ein Klang ausgeht.
Stimmenverlautbarungen aus Gefäßen, wie bei Kristof Georgen im
Kreuzfriedhof in der Freisestraße, oder die spiegelnden Bögen von Natalie
Bewernitz und Marek Goldowski im Aegidien-Kirchhof, sind ein fast symbiotisch
anmutendes Ereignis für Auge und Ohr.
Auf dem Martini-Friedhof befindet sich die Installation mit dem Titel „Gewinn“
von Jens-Uwe Dyffort und Roswita von den Driesch, zur Frage des eigenen
Zeitempfindens versus Zeitstrukturen und Relikte ehemaliger Siegertreppen als
Sitzobjekte zum Innehalten und Lauschen sich addierender Tickgeräusche. Ein
wunderbarer Ort um über die eigenen Pflichten und Erwartungen nachzudenken.
Aaron Schmitt hängt modifizierte Vogelhäuschen in die Bäume vor der Mauer der JVA in
der Klosterstraße. Sie fungieren als Klangquellen für ein Hörstück, das auf einem
Interview mit einem Insassen basiert.
Ein Beitrag mit klassischer Rezeptionsabfolge im Sinne von Auge folgt Ohr ist die Installation Hidden von Stefan Roigk. Kaum sichtbar, aber dann durch die akustisch stark bündelnden Eigenschaften der zu Klangquellen umfunktionierten Lampenschirme, die hoch in den Bäumen hängen erschließt sich Schritt für Schritt auch für das Auge ein sich weit öffnender Klangraum unter den Baumkronen des Brüdern-Friedhof in der Broitzemer Straße.
Gänzlich ohne sichtbare Konstellation und rein klangbasiert arbeitet Åsa Stjerna im
wuchernden Efeu des Petri-Friedhofs in der Goslarschen Straße. Beim Durchwandern des
Areals begleiten uns abstrakt anmutende Herzschläge, ein Meer aus
Herzschlag, so der Titel der Klanginstallation. Ein weites komponiertes
Klangfeld mit vielen Verortungen in der Gleichzeitigkeit aller anderen Geräusche am
Ort.
Emilie Schmidt nutzt für Ihre Klang-Korrelation das Schaufenster eines
kleinen Ladens in der Goslarschen Straße 14. Hier auf der bescheidenen
Dimensionierung der Schaufensterscheibe realisiert sich ein riesiger Hörraum. Ihr
Material ist die zeitlich synchronisierte Wiedergabe des Glockengeläuts der St.
Joseph und der St. Jakobi Kirche.
Dies geschieht durch Schallwandler, korblose Lautsprecher die das Material auf denen
sie fixiert sind in Schwingung versetzen und so, ähnlich einer Membran den
Schallimpuls hörbar machen.
Einem historisch wichtigen, aber im Alltag beinahe unbeachteten Monument der
Stadtgeschichte verhilft Jakob Gardemann durch seine Klänge für das Stadtmauerrelikt
am Beginekenworth zu neuer Aufmerksamkeit: Er entdeckte die Arbeitsgeräusche einer
Pumpstation hinter der Mauer am Umflutgraben und präsentiert diese nun ohne
sichtbare Lautsprecher auf der begehbaren Seite vor der Mauer. Die Aktivität der
Aggregate ist abhängig von der Wassermenge. Dementsprechend modifiziert sich die
Realzeitübertragung der Geräusche auf den Platz in Richtung Straße in ihrer
Intensität.
Ohne konkretes Klangangebot, völlig still, aber dennoch extrem beredt für die
Vorstellung von Klang und Geräusch ist Ulla Rauters Stillekompass positioniert
auf dem Friedrich-Wilhelm-Platz. Der von Geräusch und Lärm überbordende Platz ist
der ideale Ort als vorgestellter Mittelpunkt eines Kreises der für klangstaetten |
stadtklaenge 2017 genutzten Friedhöfe und weiterer Grünräume der Stadt. Dort, an
diesen Orten wird kontinuierlich die Lautstärke gemessen, um so die Richtung
anzuzeigen, wo im Augenblick die größte Stille existiert. Die Stille als Vorstellung
an einem anderen Ort, nicht hier auf dem Friedrich-Wilhelm-Platz, aber sichtbar als
ein angezeigtes Woanders.
An der ebenfalls stark befahrenen Okerbrücke der Celler Straße reagiert Ingo Schulz
mit seinem Wellenfeld auf die dominante Geräuschkulisse. Er setzt der
Geräuschwolke eine Visualisierung des idealen physikalischen Verhaltens von Klang
entgegen: Auf einem Teil der Oker unterhalb des Georg-Eckert-Institutes zeigt sich
auf der glatten Wasseroberfläche ein Feld von sich ausbreitenden Wellenringen, die
sich gegenseitig beeinflussen und immer wieder andere Muster bilden. Das von der
Brücke beobachtbare Eigenleben der ruhigen Ausdehnungen befragt dabei nur durch ihre
Sichtbarkeit unvermittelt den Widerspruch zur akustischen Realität.
Eine kleine leuchtende Aufforderung als spiegelbildliche Neonschrift, die sich
lesbar auf der Wasseroberfläche als das Verb h ö r e n abbildet, ist der
inhaltliche Kommentar und Beitrag von Gang Chen. Diese Spiegelung auf dem Wasser des
Umflutgrabens an der Ferdinandbrücke versteht sich als Aufforderung, hier am Ort
ihrer Präsenz, für das Leben im urbanen Umfeld allgemein und ganz universell als
Wahrnehmung der Welt.
Eine künstlerisch-konzeptionelle Verklammerung des Gesamtkonzeptes stellt der Beitrag Path of Awareness Braunschweig 2017 von katrinem dar. katrinem entwickelte einen 6,5 km langen Spaziergang von klangstaette zu klangstaette, verbindet dabei alle Beiträge der Kunst in der Topographie Braunschweigs, den urbanen Lebensräumen und ihren architektonischen und atmosphärischen Besonderheiten. Awareness bedeutet hier das Bewusstsein, wie wir die Dinge wahrnehmen. Ihr Spaziergang, zu dem man sich anmelden kann, fordert den Hörsinn, die Aufmerksamkeit für den eigenen Gehrhythmus im Wechselspiel mit den urbanen Realitäten – Ampelschaltungen, Fahrradwegen und die Fußläufigkeit im Lebensraum der Stadt und natürlich der Kunst.
Nachtrag
Diese Vorgehensweise einer ortsspezifischen Kunst mit Klang verschiebt die Aufmerksamkeit auf den Akut des Hörens. Hat die visuelle Kunst im urbanen Kontext das Problem der Vielfalt der optischen Reize etwas entgegensetzen zu müssen, um überhaupt sichtbar zu sein, so birgt der Hörvorgang eine augenblicklich neue Disposition. Das, was sich plötzlich und unvermittelt aufdrängt, ist eine bisher für einen Ort unbekannte Information. Hat sich diese der Aufmerksamkeit bemächtigt, so entsteht der vertiefende Wunsch nach einer Erfahrung, dem Rückschluss auf eine Bedeutung und des Verständnisses gegenüber dem Zusammenhang dieser Wahrnehmung. Damit beginnt die rezeptive Annäherung.
Ortsspezifische und interventionistische Klangkunst befindet sich meistens in einem konkurrierenden Verhältnis zu Alltagsklängen. Hierdurch ergibt sich die Möglichkeit das real gegebene akustische Umfeld in allen seinen Aspekten anzunehmen und eine gemeinsame Erlebbarkeit von sonst unerhörten Vorgängen entstehen zu lassen. Dies geschieht zielgerichtet vor allem im Außenraum und in einem direkten Miteinander der Ereignisse. Voraussetzung dafür ist allerdings das akustische Material selbst. Ist es in einer bestimmten Weise abstrakt, so sind neue Assoziationen möglich und der Mitklang einer zufälligen Geräuschsphäre wird zum Bestandteil des Höreindrucks. Diese Vorgehensweise des akustischen Implantierens in ein Geräuschumfeld kann zu überraschenden Wahrnehmungen führen, bei denen plötzlich alles unausgeblendet da ist und alle existierenden akustischen Ereignisse an einem Ort transparent werden.
Für klangstaetten | stadtklaenge 2017 erweitert sich seit einem Jahr kontinuierlich das schon erprobte und vielfältige Vermittlungsangebot des Allgemeinen Konsumvereins an alle Interessierte, an Schulklassen, Lehrkräfte und Vermittler_innen durch Angebote von Workshops, Schulungen, Vorträge und speziellen Führungen.
Klang | Kunst | Schule erfährt eine besondere Intensität:
„Es gibt immer etwas zu hören!“ - „Ich liebe es, wenn es raschelt!“ Wenn junge Lernende ihr Gehör
bewusst nutzen und sich intensiv mit Klang beschäftigen, eröffnet sich ihnen eine neue Welt. Sie werden
zu aktiven Zuhörern, Sammlerinnen, Archivaren und Erfinderinnen. Klang und Geräusche befähigen sie zum
Perspektivwechsel vom Weg- und Überhören zum bewussten Hin-Hören, zum Anders-Hören-Lernen. Dieses
Neu-Hören erbringt ein neues Gefühl von sich in der Welt, von sich genau an diesem Ort:
Den Klassenraum als Klangraum begreifen, den Klang der Schritte der Anderen kennen, die eigenen
Geräusche merken, die Orte durch ihre Geräusche bestimmen, Atmosphären wahrnehmen und Hörerfahrungen als
angenehm, betörend oder Nerv-tötend beschreiben, Materialien auf ihre Klangqualität prüfen – kurz: zu
beginnen, mit den Ohren zu denken.
Die Kooperation mit der Realschule Sidonienstraße
Xavier hat klangstaetten stadtklaenge mit ziemlicher Wucht beendet.
Die historischen Friedhöfe wurden wegen akuter Gefährdung geschlossen.
Wir müssen die geplante Finissage am 8. Oktober absagen.
Allerdings können alle Interessierten am Sonntag um 11.00 und 14.00 an der Gehperformance der Kangkünstlerin katrinem aus Berlin mit Start Allgemeiner Konsumverein teilnehmen.